UNZEITGEMÄSS
Josua Reichert – poesia typographica
Ausstellung vom 18/11 bis 30/12/16, Fr-So 15-18 Uhr
Ausstellungseröffnung: Donnerstag, 17/11/16, 19 Uhr
Einführung: Alf Schuler
„Unzeitgemäß“ – dieser Titel umspannt eine Folge von drei Einzelausstellungen, die mit Zeichnungen von Rüdiger Barharn ihren Anfang nahmen. Darauf folgen Präsentationen mit poetischer Typografie von Josua Reichert sowie Druckgrafik von Thomas Ranft.
Für die drei Ausstellungen im spannungsreichen Raum zwischen Zeichnung und Schrift ist der Begriff „unzeitgemäß“ zugleich Behauptung und Frage. Dabei sind die Künstler keineswegs selbst aufgerufen, sich dazu zu positionieren. Vielmehr sind die damit verknüpften gesellschaftlichen Vorstellungen angesprochen, mit denen das künstlerische Feld in „zeitgemäß“ bzw. „unzeitgemäß“ geordnet und gewichtet wird. Aber was ist eigentlich zeitgemäß? Was unzeitgemäß? Was ist zeitlos, was wird wie zum Klassiker und überdauert so die Moden und wandelnden Stilbildungen, die in immer schnelleren Folgen unser Jetzt und Hier als einzigartig und neu bestimmen sollen?
Josua Reichert baut Schriftbilder. Er druckt mit lateinischen, hebräischen, griechischen, kyrillischen und arabischen Buchstaben. Sie sind ihm Form und Sinnträger zugleich. Schrift und Bild und Form gehen ineinander über, ergänzen sich, rivalisieren zuweilen. Er ordnet und gliedert die Lettern, er färbt und presst sie und bildet mit ihnen Texte, Textbilder, Bildtexte, Szenen, Kompositionen.
Buchstaben sind tradierte Formen, sie haben eine Gestalt, einen Ausdruck, einen Habitus. Sie transportieren Sinn. Sie können sich aber auch als Formen verselbstständigen, bieten sich dann dem Künstler an, mit ihnen spielerisch Bildräume zu gestalten. Dann werden sie zu eigenständigen Wesen, behaupten sich in Umgebungen, auf Bildgründen – sie bilden komplexe Welten, die letztlich immer wieder darauf verweisen, wie elementar die Lettern mit an dem beteiligt sind, was menschliche Kultur bedingt.
Reichert ist Typograph und Bildender Künstler. Diese Kombination macht ihn schwer zuordenbar, bildet aber auch den besonderen Reiz. Reichert druckt per Hand; er reibt mit einem Löffel, mit der Farbwalze oder der Kniehebelpresse Druckstöcke aus Holz, Metall, PVC und Kunststoff.
Im Kunsttempel sind Blätter zu Gedichten u.a. von Rilke, Ungaretti, Celan oder Goethe zu sehen. Im Eingang wird das von Reichert interpretierte antike „Sator“-Palindrom hängen, als eine Art Stichwortgeber an prominenter Stelle. Die lateinische Wortfolge SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS, das so genannt Sator-Quadrat, kann man in alle Richtungen lesen, von links nach rechts, vorwärts und rückwärts. Reichert hat das Quadrat auf die Spitze gestellt und ein wenig zum Rhombus verzerrt. Die farbig zugeordneten Buchstaben werden auf der Ebene des Bildnerischen zum grafischen Ornament. Beim Betrachten verwandelt sich das Lesen der Worte – und die Überraschung über die Vielfalt der Richtungen – in ein Springen zwischen farbigen Formationen von Innen nach Außen und umgekehrt
Josua Reichert
wurde 1937 in Stuttgart geboren und lebt in Rosenheim. Er ist Schüler von HAP Grieshaber und gilt auf dem Gebiet der künstlerischen Typografie als einer der wichtigsten zeitgenössischen europäischen Künstler. Das Gesamtwerk Reicherts, der 1968 an der documenta 4 teilnahm, umfasst die Werkgruppen „Stempeldrucke“, „Poesia Typographica“, „Collagen“, „Einblattdrucke“, den „Haidholzener Psalter“ (über einhundert verschiedene Drucke von rund dreißig Psalmen), „Plakate“ (seit 1960 entstanden rund 160 Künstlerplakate), „Handdrucke“ (Reibedrucke mit dem Löffel, die wie gemalt erscheinen), „Schrift-Bilder“ sowie „Mappenwerke, Codices, Bücher und Faltbogen“. Mit seinen kraftvollen, farbigen Drucken spannt er einen weiten Bogen über die Schriftkulturen, Weltliteraturen und Jahrhunderte. Sein kulturübergreifender Textkanon reicht von der Antike bis in die Gegenwart.